– Es gilt das gesprochene Wort –
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ – so lautet das Versprechen, das wir uns alle gegeben haben. So beginnt Artikel 1 unseres Grundgesetzes; er ist das grundlegende Versprechen unseres Zusammenlebens. Dieses grundlegende Versprechen ist keine bloße Beschreibung der Wirklichkeit; es beschreibt nicht einfach nur, wie wir leben. Es verpflichtet uns vielmehr dazu, wie wir leben sollen: Wir sollen die Würde eines jeden Menschen achten – gleich ob Mann oder Frau, hetero-, homo-, inter-, trans- oder bisexuell, binär oder nonbinär; unabhängig von der Hautfarbe, Religion oder Herkunft. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es steht da nicht, die Würde des heterosexuellen Menschen ist unantastbar. Dieses Versprechen verpflichtet uns jeden Tag.
Dieses fundamentale Versprechen ist nicht selbstverständlich. Es ist historisch. Es verweist auf die deutsche Geschichte, es fordert uns zum Erinnern auf. Und das tun wir. Vor 90 Jahren, am 6. Mai 1933, erreichte die Verfolgung queerer Menschen durch die Nationalsozialisten einen ersten Höhepunkt. Magnus Hirschfelds Institut für Sexualforschung wurde von ihnen überfallen, wurde geplündert, seine Bibliothek wenige Tage später bei den Bücherverbrennungen vernichtet. Als hätte er vorhergesehen, was kommen würde, hatte Heinrich Heine schon 110 Jahre zuvor geschrieben: „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.” So war es. In den zwölf Jahren der Nazi-Diktatur wurden auch queere Menschen ausgegrenzt und diskriminiert und gedemütigt. 50.000 Männer wurden von der NS-Justiz verurteilt, 10.000 bis 15.000 in Konzentrationslager gesperrt, mehr als die Hälfte wurde ermordet.
Es heißt, nach der Nazi-Diktatur seien die queeren Menschen in Deutschland vergessen worden. Das ist falsch. Vergessen waren lange Zeit die Verbrechen, die an ihnen begangen worden waren, die queeren Menschen selbst aber wurden in den Nachkriegsjahren niemals vergessen – nicht von der Justiz, die sie auch in der Bundesrepublik noch lange Zeit verfolgte, nicht von der Gesellschaft, die ihnen den Zutritt und die Teilhabe verweigerte und sie zur Unsichtbarkeit verurteilte.
Auch deshalb hat es so lange, so fürchterlich lange gedauert, bis sich der Deutsche Bundestag endlich entschloss, auch dieser Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken, der Menschen, die wegen ihrer geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung verfolgt, eingesperrt und ermordet wurden.
Und es war wirklich ein langer Kampf, auch meiner, im Präsidium des Deutschen Bundestags. Umso dankbarer bin, dass wir an diesem Freitag, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, endlich auch dieser Opfergruppe gedenken. Auch die Teilnehmer der Podiumsdiskussion, die vorher stattgefunden hat, haben entscheidend dazu beigetragen und sich für die Anerkennung auch dieser Opfergruppe eingesetzt.
Es ist mir eine besondere Ehre, aus diesem Anlass im SchwuZ Berlin, im Kreis queerer Menschen zu sprechen. Der 27. Januar ist ein Gedenktag, ein Festtag ist es nicht. Wir gedenken der queeren Opfer des Nationalsozialismus, aber wir vergessen auch nicht die Homosexuellen, die nach dem Krieg dem Strafgesetzbuch der Bundesrepublik zum Opfer gefallen sind. Denn nach 1945 war es zwar mit den Nazis vorbei, nicht aber mit dem schändlichen § 175 Strafgesetzbuch in der von den Nationalsozialisten verschärften Fassung. Etwa 50 000 homosexuelle Männer wurden bis 1969 wegen ihrer sexuellen Orientierung rechtskräftig verurteilt. Das war mehr als im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zusammen. Zwar wurde der Paragraf in den siebziger Jahren entschärft, aber abgeschafft wurde er erst 1994. Doch jahrelang und oft erfolglos kämpften danach viele der Verurteilten um eine Rehabilitierung und Entschädigung. In der DDR war der § 175 immerhin 26 Jahre zuvor, 1968, im Zuge einer Strafrechtsreform abgeschafft worden.
Lesbische Frauen waren, anders als unter nationalsozialistischer Herrschaft, in der Bundesrepublik zwar nicht mit Strafe bedroht, aber bis in die 1980er Jahre konnte ihnen das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen werden, weil Familiengerichte eine Gefährdung des Kindeswohls unterstellten. Es hat dann noch einmal fast ein Vierteljahrhundert gedauert, bis der Bundestag die wegen ihrer sexuellen Orientierung verurteilten Männer rehabilitierte. Der Staat hat immerhin inzwischen einiges getan, um der Diskriminierung queerer Menschen entgegenzutreten. Ein Meilenstein war das Gesetz von 2017, das gleichgeschlechtlichen Paaren die Eheschließung ermöglicht: die Ehe für alle!
Die Einsicht, dass queere Menschen Anspruch haben, gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, dass sie nicht Teil von verschiedenen Minderheiten sind, sondern Individuen und jeder von ihnen einzigartig ist – diese Einsicht ist noch längst nicht in allen Teilen der Gesellschaft angekommen. Im Gegenteil. Der Hass, der queeren Menschen immer wieder entgegenschlägt, nimmt zu und schlägt sich auch in der Kriminalstatistik nieder. In den vergangenen Jahren war ein dramatischer Anstieg der Hasskriminalität gegen queere Menschen zu verzeichnen. Im Jahr 2021 wurden allein in Berlin 456 Fälle erfasst, in denen die Opfer beleidigt, bedroht und angegriffen wurden. Das war fast viermal so viel wie im Jahr 2010. Allein das macht klar, warum die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen wachgehalten werden muss. Sie macht bewusst, wohin Ausgrenzung und Diskriminierung führen. Die morgige Gedenkstunde im Bundestag ist nicht nur ein innenpolitisches Signal. Auch global haben wir es mit einem weltweiten Bündnis von Autokratien zu tun, die sich darin einig sind, dass die heterosexuelle Orientierung die einzig „richtige“ ist. Dies gilt für China, Russland, Iran, Saudi-Arabien, Nicaragua und bis vor kurzem auch für Bolsonaros Brasilien, nicht zu vergessen die fundamentalistischen Islamisten und Evangelikalen. Das geht so weit, dass das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill „liberale Werte“ und „schwule Paraden“ als Hauptgrund für Russlands Angriffskrieg anführt. Nicht zuletzt durch die Aktion „OutInChurch“ von katholischen Lesben, Schwulen, bisexuellen, trans und intergeschlechtlichen Menschen, die Offenheit und Akzeptanz fordern, ist wieder klargeworden, dass auch der Vatikan sich bewegen muss.
Ende vergangenen Jahres haben wir beschlossen, dass geschlechtsspezifische, gegen die sexuelle Orientierung des Opfers gerichtete Tatmotive künftig strafverschärfend zu berücksichtigen sind. Das ist eine der von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen zum Schutz und für die gleichberechtigte Teilhabe queerer Menschen. Eine andere ist die erstmalige Ernennung eines Queer-Beauftragten, Sven Lehmann, aber auch die Verabschiedung eines nun umzusetzenden Aktionsplans für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt „Queer leben“.
Liebe Freund:innen, das fundamentale Versprechen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das ich eingangs zitiert habe, ist nicht nur eine Erinnerung an Unrecht, das geschehen und vergangen ist. Sie richtet sich auch in die Zukunft. Wir sind heute im SchwuZ zusammengekommen, um daran zu erinnern, dass kein Mensch dem anderen gleicht, und dass eben diese Vielfalt uns zu Gleichen macht. Als Gleiche voreinander und vor dem Gesetz wollen wir leben. Auch in Zukunft. Dazu wollen wir uns bekennen!
Die Gleichstellung queerer Menschen in rechtlicher und gesellschaftlicher Hinsicht ist für mich eine Herzensangelegenheit. Sie ist eine staatliche Aufgabe, aber wir brauchen auch den gesellschaftlichen Wandel. Der ist noch längst nicht in ausreichendem Maße vollzogen worden. Unser Ziel ist eine offene Gesellschaft, die die individuellen Lebensentwürfe zulässt und anerkennt. Vor ein paar Jahren habe ich gesagt: „Geduld ist eine Tugend. Ungeduld aber schreibt Geschichte. Lasst uns also ungeduldig sein. Lasst uns weiter streiten. Lasst uns auf die Straße gehen, bunt und queer, vereint und solidarisch.“ Was ich damals gesagt habe, sage ich auch heute. Und ich wüsste dafür keinen besseren Ort als das SchwulenZentrum Berlin.
Jetzt bin ich gespannt auf den Film Nelly & Nadine, der den Teddy Award – den Queeren Filmpreis der Berlinale 2022 zugesprochen bekommen hat.