"Bırakın arkadaş olalım!"– „Lasst uns Freunde sein!“ Ich weiß nicht, welcher Satz mir in meinem langen Politikerinnenleben mehr Respekt, mehr Hochachtung abverlangt hat. Mevlüde Genç hat ihn wenige Tage nach dem Anschlag gesagt, den sie selbst nur knapp überlebte, der zwei ihrer Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte tötete, Gürsün Ince und Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç. Wir geben den Opfern einen Namen. Die feige Tat hat auch ihrem Sohn, Bekir, das Leben genommen, das er als gesunder Mann hätte führen können. Er überlebte den Anschlag am 29. Mai 1993 schwer verletzt.
Es gab in der Bundesrepublik vor den Morden in Solingen schreckliche Anschläge, das Oktoberfest-Attentat 1980, 1992 in Mölln oder auch den schrecklichen Brandanschlag auf das Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde mit sieben Toten in München 1970. Jahrelang zog der NSU mordend und marodierend durch Deutschland, eine Terrorzelle, die über die Jahre mindestens zehn Menschen getötet hat, wobei die Akte zu diesen Morden bis zum Auffliegen der Zelle mit Bezeichnung „Mordserie Bosporus“ geführt wurde; wieder wurden die Opfer, die Angehörigen verletzt und mit einem Generalverdacht belegt. Es folgten die grauenhaften Anschläge von Halle und Hanau. Wo war unsere Trauer, unser Mitgefühl? Wir haben die Mörder nicht aufgehalten.
Es ist beschämend, sich das eingestehen zu müssen. Es beschämt mich. Und wenn sich doch etwas verändert hat in dieser Republik, dann durch diesen Satz, den Ihre Mutter, liebe Familie Genc, vor dreißig Jahren sagte: "Bırakın arkadaş olalım!" – „Lasst uns Freunde sein!“
Dieser Satz zeugt von einer bewundernswerten menschlichen Größe. „Lasst uns Freunde sein!“ ist der Satz eines Menschen, einer Frau, einer Mutter, Großmutter und Tante, der so vielen Politikerinnen und Politikern gut zu Gesicht gestanden hätte. Es ist von einer Größe, die beschämend ist für alle, die vor dreißig Jahren in Spitzenpositionen des Staates waren, die die Bundesregierung geführt haben, aber der Trauerfeier fernblieben, um angeblich keinem „Beileidstourismus“ Vorschub zu leisten. Vor 30 Jahren saß ich hier in Solingen neben dem türkischen Botschafter. Ich kann mich immer noch sehr lebendig an die leer gebliebenen vorderen Plätze bei der Trauerveranstaltung in Solingen erinnern. Ich kann mich an die Worte erinnern, die terroristische Taten versucht haben zu relativieren mit dem Gerede von „Missbrauch des Asylrechts“, von „unkontrolliertem Zustrom“.
Der Schmerz an diesem Tag, der Schmerz der Angehörigen, über das Unfassbare, er war überwältigend. Und es war eine Distanz zu spüren zwischen dem deutschen Staat und den Opfern, die ja auch seine Opfer waren. Der Staat verweigerte den Opfern Empathie und die Sicherheit, dazu zu gehören. Das wirkt bis heute nach. Es hat sich viel verändert. Aber: Wir sind heute wieder konfrontiert mit einer offen rassistischen, in Teilen rechtsradikalen Partei im Bundestag, die keine Probleme damit hat, Menschen rassistisch anzugreifen und rassistischen und antisemitischen Terror, Hass und Gewalt zu rechtfertigen.
Doch auch der Widerspruch gegen die Demokratiefeinde und Rechtsstaatsverächter, er ist da und er ist stark. Das sieht man auch hier in Solingen an dem großen zivilgesellschaftlichen Engagement. Eine Demokratie, die angegriffen wird, ist deshalb noch nicht mit dem Tod bedroht. Eine Demokratie, die attackiert wird, ist auch wehrhaft. Und das ist unsere Aufgabe: Sie zu verteidigen, sie zu beschützen, sie zu verstärken gegen jede Form von Rassismus und Antisemitismus. Und für eine Gesellschaft arbeiten, die ihre Vielfalt nicht ergeben hinnimmt und sie nicht als Bedrohung wahrnimmt, sondern als Gewinn begreift, die friedlich zusammenleben will. Nur so wird der Wunsch Mevlüde Genç‘ „Lasst uns Freunde sein!“ Realität werden.
Vielfalt als Gewinn zu begreifen, ihre kreativen Potenziale anzuerkennen und sie entfalten zu lassen, heißt sich zu öffnen, so wie dieses Museum sich Künstlerinnen und Künstlern öffnet, die verfolgt werden oder sich mit Verfolgung auseinandersetzen.
Und, nein: Vielfalt heißt nicht Beliebigkeit. Wer sie will und wer sie begrüßt, will auch die Reibung, will auch die Differenz. Wo es keine Abweichung, keinen Widerspruch und keine Differenz mehr geben darf, stirbt die Kunst. Und mit ihr im schlimmsten Fall der Künstler beziehungsweise die Künstlerin, wie das Beispiel Maksym Jewhenowytsch Lewins zeigt, dessen Fotografien hier im vergangenen Jahr ausgestellt waren. Er dokumentierte den Krieg in der Ukraine seit 2014 und starb im April 2022 - mutmaßlich erschossen von einem russischen Soldaten.
Mit der Ausstellung Solingen 93 zeigt das Zentrum für verfolgte Künste zum 30. Jahrestag des Brandanschlags noch einmal, was der Satz Mevlüde Genç‘ bedeutet: Die Porträts der Künstlerin Beata Stankiewicz zeigen die Familie Genç, sie zeigen, dass und wie der Anschlag das Leben dieser Menschen zerstören sollte. Und sie zeigen, wie er die Überlebenden gezeichnet hat. Sie zeigen uns, dass uns die Opfer rassistischer Anschläge brauchen, dass wir in der Verantwortung stehen.
Rechtsextremistische und rassistisch motivierte Anschläge, wie dieser sind bittere Realität in Deutschland. Ihre Keimzelle, der Rassismus, ist kein Phänomen der Extreme, das nur von außen auf uns einwirkt. Er zieht sich quer durch unser Land, durch unsere Geschichte, unsere Mitte und unseren Alltag. Dem Angriff auf die Menschlichkeit folgt der Angriff auf den Menschen. Rechtsextremismus, Rassismus, Muslimfeindlichkeit und Antisemitismus sind eine Bedrohung, für unsere Sicherheit, für unsere Demokratie, für unsere Gesellschaft. Wir Demokratinnen und Demokraten können dieser Bedrohung entgegentreten. Wir können die Stimme erheben und die Demokratie verteidigen.
Es muss uns bewusst sein, dass das eine Daueraufgabe bleibt. So lange wir in einer Demokratie leben wollen, sind wir es, die für ihre Wehrhaftigkeit verantwortlich sind. Dazu gehört, zu unseren Fehlern und Versäumnissen zu stehen, zu zeigen, wann und wo wir gescheitert sind.
Vor dreißig Jahren sind wir hier in Solingen gescheitert. Daran zu erinnern, sind wir den Opfern schuldig. Aber auch uns selbst. Indem wir an die Tat erinnern, erinnern wir uns alle daran, dass es unsere Aufgabe ist, Täterinnen und Tätern entgegenzutreten und sie an ihrem Tun zu hindern.
Was hier in Solingen und andernorts in Deutschland geschah, muss in uns im Gedächtnis bleiben, wir müssen uns erinnern. Nicht nur an die Täterinnen und Täter, sondern vor allem an die Opfer, an die Betroffenen, an die Angehörigen. Sie sind es, die uns brauchen. Ihnen müssen wir zur Seite stehen – sehr viel länger als nur drei Jahrzehnte. Sie sollen spüren, dass ihr Schmerz auch unser Schmerz ist. Dass ihre Trauer auch unsere Trauer ist. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen, ihre Verletzungen, Wünsche und Bedürfnisse, ihre Perspektiven gilt es wahrzunehmen, stärker als bisher. Das meinen wir, wenn wir von Erinnerungskultur sprechen.
Die Mahnung der Holocaust-Überlebenden und im Juni 2021 verstorbenen Esther Bejarano kann uns dabei als Leitschnur dienen: „Wir alle haben die Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, solidarisch mit den Opfern rassistischer Gewalt zu sein und ihnen zur Seite zu stehen, zuzuhören und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie nie wieder alleine sein werden.“
In der Konsequenz bedeutet das für uns: Solingen wird Teil unserer lebendigen und zur Demokratie mahnenden Erinnerungspolitik werden und bleiben.