– Es gilt das gesprochene Wort –
Vor einiger Zeit sah ich in der Komischen Oper in Berlin die Operette „Der Ball im Savoy“ in der wunderbaren Inszenierung von Barrie Kosky. Die Musik schrieb der jüdische Komponist Paul Abraham, das Libretto der jüdische Schriftsteller und Schlagertexter Fritz Löhner-Beda. Weihnachten 1932 war diese Operette eine der letzten Uraufführungen in der untergehenden Weimarer Republik. Abraham wurde aus Deutschland vertrieben, Löhner-Beda 1938 ins KZ Dachau verschleppt, dann nach Buchenwald und schließlich im Dezember 1942 in Auschwitz ermordet.
Ist es möglich, diese großartige Musik, die sentimentalen, hintergründigen und lebensprallen Liedtexte zu hören, ohne an die Konzentrationslager zu denken, in denen nach 1932 Millionen Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma, politische Gegnerinnen und Gegner der Nationalsozialisten, Homosexuelle, Christinnen und Christen, Zeugen Jehovas und andere vernichtet wurden?
Für Sie, die Zeit- und Augenzeuginnen und -zeugen, die Angehörigen, die Sie heute hierhergekommen sind, nicht. Auch Barrie Kosky hat daran gedacht und wohl deshalb den Abend mit einem Abschiedslied enden lassen, das Löhner-Beda für eine andere Operette geschrieben hatte. Der Refrain lautet:
„Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände/
Good night, good night, good night/
Schön war das Märchen, nun ist es zu Ende/
Good night, good night, good night.“
Wir Heutigen wissen, welches schöne Märchen damals, Weihnachten 1932 katastrophal zu Ende ging – die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, ihr Versprechen der Humanität und der Menschenwürde.
Aber wen meine ich, wenn ich von uns Heutigen spreche. Warum erinnern wir uns noch an Fritz Löhner-Beda? Und warum daran, dass er ein Gefangener in Dachau war?
Ich habe, bevor ich hierhergekommen bin, noch einmal nachgeschlagen, wie lange es her ist, dass aus dem ehemaligen Konzentrationslager Dachau eine Gedenkstätte wurde. Vor 58 Jahren, also 20 Jahre nach Kriegsende, wurde sie eröffnet. Wer weiter recherchiert, erfährt, dass diese 20 Jahre Verzug keine Ausnahme sind.
Die Idee der Gedenkstätten, Dokumentationszentren und Erinnerungsorte hat Zeit gebraucht, bis sie sich durchgesetzt hatte. In einigen Fällen mehr als sechs Jahrzehnte.
Dass sie sich durchgesetzt hat, haben wir zuallererst den ehemaligen Gefangenen selbst zu verdanken, ihrem oft jahrzehntelangen Kampf um das, was wir Deutschen heute so selbstbewusst Erinnerungskultur nennen. Wir können uns nicht rühmen, sie erfunden zu haben.
Dass wir uns heute in Dachau und an anderen Orten wie Neuengamme, Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Ravensbrück, Buchenwald, Mittelbau-Dora und Flossenbürg an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, verdanken wir Menschen wie Ihnen, lieber Herr Naor. Ihre Teilnahme an diesem Festakt bewegt mich sehr. Als Ihnen 2018 der bayerische Ministerpräsident Markus Söder den Bayerischen Verdienstorden verlieh, sagte er über Sie: „Er personifiziert wie kaum ein anderer die Werte Versöhnung, Völkerverständigung und Freundschaft.“ Sie wurden als 13-Jähriger in das Ghetto Kaunas verschleppt, dann in das KZ Stutthof und von dort in Außenlager des KZ Dachau deportiert, wurden in der Zwangsarbeit geschunden und mussten noch im Frühjahr 1945 den Todesmarsch überstehen.
Sie sind nach Israel emigriert, aber sie sind immer wieder nach Deutschland, nach München zurückgekehrt. Seit 2017 sind Sie Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees und seit 2005 ordentliches Mitglied des Stiftungsrates der Stiftung Bayerische Gedenkstätten. Vor allem aber sind Sie, lieber Herr Naor, ein Mensch mit einem himmelweiten Herz, in dem für alles Platz ist, nur nicht für Hass. Meinen innigsten Dank für Ihr großes und wichtiges Engagement. Von Menschen wie Ihnen, lieber Herr Naor, kann es nie genug geben, aber es gibt immer zu wenige. Wir brauchen Menschen wie Sie, gerade in Zeiten, in denen der Hass in vielen Ländern, auch in Deutschland, immer mehr Anhängerinnen und Anhänger gewinnt, die antisemitischen und rassistischen Lügnerinnen und Lügner das große Wort führen und der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist. Russlands Krieg gegen die Ukraine vernichtet nicht nur Menschenleben, er soll auch ihre Geschichte und ihre Kultur auslöschen. Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen, auch weil der Hass nicht die Herrschaft über uns gewinnen soll.
Ihre Botschaft und die Ihrer Mitgefangenen und Mitstreiterinnen und Mitstreiter, dem Hass abzuschwören, lieber Herr Naor, ist hier und an anderen Orten in Deutschland auf offene Ohren getroffen und fruchtbar geworden. Deshalb sind wir heute hier, um das 20-jährige Bestehen der Stiftung Bayerische Gedenkstätten zu würdigen, eine Stiftung, die es nicht gäbe, ohne den Gedanken, dass die Erinnerung an nationalsozialistisches Unrecht nicht allein ein staatlicher Auftrag bleiben kann. Er muss von der Gesellschaft selbst getragen und mit Leben gefüllt werden.
Es ist auch die Einsicht einer nachfolgenden Generation, die verstanden hat, dass ein ehemaliges KZ für sie zum Schandfleck wird, wenn die Taten, die dort begangen wurden geleugnet, verharmlost und vergessen werden sollen.
Das Versprechen der Humanität und der Menschenwürde, das die erste deutsche Demokratie nicht einlösen konnte, hat die Bundesrepublik bei ihrer Gründung 1949 nicht nur erneuert, sondern im Grundgesetz als höchsten Wert von Staat und Gesellschaft in Artikel 1 festgeschrieben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist mehr als ein unverbindlicher Appell und auch mehr als ein Versprechen – diese sechs Worte bilden den Kern der Identität der Bundesrepublik. Wer sie ernst nimmt, muss sich zuallererst klarmachen, dass die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in dem Versprechen, die Menschenwürde unter den Schutz des Staates zu stellen, nachklingen. Die Menschenwürde, das weiß Artikel 1 des Grundgesetzes, ist antastbar. Das bedeutet: Die Erinnerung daran muss uns allen und zu jeder Zeit präsent bleiben.
Das macht die Arbeit der Stiftung so wertvoll, ja unverzichtbar. Die Gedenkstätten schützen und bewahren nicht nur die Erinnerung an die deutschen Verbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sie vermitteln damit zugleich die herausragende Bedeutung der Garantie der Menschenwürde heute und in Zukunft. Das leistet die Stiftung mit ihren Gedenkstätten auf vorbildliche Weise. Dafür gebührt ihr und allen Mitarbeitenden unser aller Dank und Anerkennung.
Lassen Sie mich eine Bitte formulieren: In Bayern engagieren sich sehr viele Bürgerinnen und Bürger im Bereich der Aufarbeitung und Vermittlung der lokalen, regionalen und überregionalen NS-Geschichte und Erinnerungsarbeit auf vorbildliche und innovative Weise. Dabei haben sie unterschiedliche Zugänge und thematische Ansätze. Sie leisten herausragende Arbeit, die nicht verloren gehen darf. Sie archivieren Dokumente, sie beantworten Anfragen Angehöriger, forschen und kuratieren Ausstellungen. Diese Ehrenamtlichen veranstalten Erinnerungswerkstätten, beschäftigen sich mit Einzelschicksalen, geben Führungen vor Ort oder in Gedenkstätten. Aber sie setzen sich auch für den Erhalt der Bauwerke ein, die für die Erinnerungskultur im Freistaat von Bedeutung sind.
Die Arbeit, die diese Ehrenamtlichen leisten, indem sie an NS-Verbrechen erinnern, an jüdisches Leben wie es in Bayern zum Alltag gehörte, wichtige Bildungsarbeit übernehmen und sich antisemitischen Strömungen entgegenstellen, müssen wir wertschätzen und unterstützen. Vielen Dank dafür!
Walter Benjamin, den die Nationalsozialisten 1940 in den Tod trieben, schrieb damals verzweifelt die prophetischen Worte: „Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.“ Denn der Feind, den Benjamin meinte, löscht eben nicht nur Leben aus, sondern auch die Erinnerung. Das, meine Damen und Herren, darf nicht wieder geschehen.
Deutschland und die Deutschen brauchen die Stiftung Bayerische Gedenkstätten. Ich garantiere Ihnen, dass die Bundesregierung und ich als verantwortliche Staatsministerin Ihre unverzichtbare Arbeit auch in Zukunft nach besten Kräften unterstützen werden.