- Gehalten am:
- 8. November 2023
- Es gilt das gesprochene Wort. -
Es ist mir eine große Ehre, es ergreift und bewegt mich tief, dass ich hier heute in Paris als Kulturstaatsministerin und Vertreterin der Bundesrepublik Deutschland mit Ihnen allen diesem für meine deutsche wie auch die europäische Geschichte so wichtigen wie furchtbaren Datum des 9. November 1938 gedenken darf, der Reichspogromnacht im nationalsozialistischen Deutschland.
Dafür danke ich dem Mémorial de la Shoah, meiner lieben Kollegin Rima Abdul Malak sowie Ihnen allen aus tiefstem Herzen. Dass wir heute hier zusammen gedenken zeigt, wie eng Frankreich und Deutschland zusammengewachsen sind, wie aus vermeintlichen Feinden von einst heute enge Freunde und Partner geworden sind. Und wie wichtig diese Freundschaft, dieses Vertrauen ist für das gemeinsame Europa.
Mit der Reichspogromnacht hat die Unterdrückung und Verfolgung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland nicht begonnen, sie war nur der vorläufige Höhepunkt. Der 9. November 1938 markiert den Übergang von der seit 1933 betriebenen Entrechtung, Ausgrenzung und Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung hin zu ihrer systematischen Verfolgung und Vernichtung. Es war eine Art furchtbarer Testlauf für die nationalsozialistischen Machthaber, um zu sehen, wie die deutsche Bevölkerung auf dieses öffentlich für alle sichtbare Schänden und Zerstören von Synagogen, das Verwüsten von Geschäften und das Misshandeln bis Ermorden von Jüdinnen und Juden reagieren würde. Das geschah offen und vor aller Augen. Leider muss man klar sagen, dass die Deutschen im Herbst 1938 in ihrer ganz großen Mehrheit entweder johlend mitgemacht oder stumm zugesehen haben. Damit war der 9. November ein wichtiger Schritt hin zu der systematisch organisierten Ermordung von über 6 Millionen Juden in Deutschland, Frankreich und Europa. Für das vom nationalsozialistischen Deutschland begangene einzigartige und unvergleichbare Menschheitsverbrechen der Shoah.
„Mit der ‚Kristallnacht‘ vom 9. auf den 10. November 1938 fand meine Kindheit, die ich als behütet erlebt hatte, ein unwiderrufliches Ende mit Schrecken. Schon auf meinem Schulweg in die Joachimsthaler Straße, den ich mit der Straßenbahn zurücklegte, sah ich am Morgen des 10. November mit Entsetzen all die Verwüstungen, die eingeschlagenen Scheiben und geplünderten Geschäfte, besonders am Kurfürstendamm, was ich mir gar nicht erklären konnte. (…) Nach diesem unglaublichen Terror wurde auch meinen Eltern endgültig bewusst, in welcher ausweglosen Situation wir Juden in Deutschland lebten“.
Das schreibt Hanni Lévy in ihrer Autobiographie „Nichts wie raus und durch!!“. Die junge Berlinerin war damals 14 Jahre alt und hatte diese Nacht von dem 9. auf den 10. November zu Ihrem Glück zu Hause verbracht. Ich durfte Hanni Lévy noch kennenlernen, die versteckt in Berlin den Holocaust überlebt hat – und die Zeit ihres Lebens eine leidenschaftliche Berlinerin geblieben ist und eine ebenso leidenschaftliche Pariserin geworden war. Viele von Ihnen haben Hanni Lévy gekannt. (Ihre beiden Kinder sowie ein Enkel von ihr sind heute Abend hier. Ich möchte Sie ganz besonders begrüßen.)
Es ist mir auch eine besondere Ehre, Sie, lieber Herbert Traube, hier und heute im Mémorial de la Shoah begrüßen zu dürfen. Mit Ihnen durften Rima und ich uns vor dieser Veranstaltung austauschen – was mich immer noch tief bewegt und berührt. Sie haben die Reichpogromnacht selbst in Wien erlebt. Das war der Beginn ihrer persönlichen Verfolgungsgeschichte. Sie haben mehrere Lager überlebt, sich der Résistance angeschlossen und als französischer Soldat Stuttgart und Vorarlberg mit befreit. Ihre Mutter ist während des Krieges in Frankreich gestorben, ihr Vater wurde von den Deutschen in Auschwitz-Birkenau ermordet, nachdem er über das berüchtigte deutsche Sammellager in Drancy nordöstlich von Paris dorthin deportiert worden war.
Das nationalsozialistische Deutschland hat an Ihrer Familie furchtbare Verbrechen begangen. Sie engagieren sich nun sehr dafür, gerade junge Menschen über diese Verbrechen aufzuklären. Dafür und dass Sie bei diesem deutsch-französischen Abend hier heute dabei sind, dafür danke ich Ihnen ganz besonders, das ist ein bedeutendes Zeichen.
Es ist mir auch eine besondere Freude, Sie hier heute Abend persönlich kennenzulernen Laurent Sourisseau, vor allem bekannt unter dem Künstlernamen „Riss“. Sie haben den furchtbaren Anschlag auf die Charlie Hebdo-Redaktion nur knapp überlebt, viele Ihrer Kollegen wurden dort ermordet. Ermordet, weil sie sich für die Freiheit des Wortes und der Kunst eingesetzt haben. Und sie treten weiterhin dafür ein, müssen dafür rund um die Uhr beschützt werden. Danke Ihnen für Ihren Mut und ihren unermüdlichen Einsatz. Die Ausstellung Ihrer Zeichnungen zum Prozess Papon hat mich sehr beeindruckt.
Aus dem Menschheitsverbrechen der Shoah erwächst dem Deutschland von heute eine ganz besondere Verantwortung. Eine Verantwortung, sich mit aller Kraft und auch allen Mitteln des Rechtsstaates gegen Antisemitismus überall einzusetzen. Und eine Verantwortung, jüdisches Leben ganz besonders zu schützen, zu fördern und zu stärken, was ich auch mit meinem Ministerium in Deutschland tue.
Aber während wir heute hier an diesen 9. November gedenken, müssen wir in Deutschland wie in Frankreich und Europa erleben, dass Menschen auf den Straßen Jüdinnen und Juden den Tod wünschen, in Berlin Brandsätze auf Synagogen geworfen werden und Davidsterne an Häuser geschmiert werden. Wir müssen erleben, dass eine junge Jüdin in ihrem Haus in Lyon angegriffen und schwer verletzt wird – und der oder die Täter ein Hakenkreuz auf ihrer Tür hinterlassen. Wir müssen erleben, dass Jüdinnen und Juden Angst haben, ihre Kinder zur Schule zu schicken, Angst haben in der Öffentlichkeit einen Davidstern oder eine Kippa zu tragen, dass sie die Mesusa von ihrer Tür entfernen. Für Deutschland muss ich sagen, dass ich es als Schande für mein Land empfinde, dass so etwas heute wieder geschehen kann.
Der 7. Oktober war ein Wendepunkt. An diesem Tag verübten die Terroristen der Hamas an jüdischen Menschen in Israel und ihren Gästen ein beispielloses Massaker, sie ermordeten in bestialischer Weise friedliche Zivilisten, Babys, ältere Menschen, vergewaltigen Frauen. Meine Gedanken sind bei den Geiseln, die immer noch von der Hamas festgehalten werden, bei ihren Familien, bei den Familien der vielen Opfer. Es ist völlig inakzeptabel, dass diese Bluttat auch noch gefeiert und unterstützt wurde auf deutschen Straßen.
Deutschland, das sage ich hier ganz deutlich, steht in diesen schweren Stunden, Tagen und Wochen fest an der Seite Israels. Das Existenzrecht Israels darf nicht in Frage gestellt werden, Jüdinnen und Juden müssen dort sicher und in Frieden leben können. Israel hat das Recht, seine Sicherheit zu verteidigen.
Und wenn ich das sage, denke ich natürlich auch an die Zivilbevölkerung im Gazastreifen und hoffe sehnlichst, dass die humanitäre Hilfe sie erreicht und ihre Leben, mit dem nicht zuletzt die Hamas ein zynisches Spiel betreibt, geachtet werden.
Meine liebe Kollegin Rima und ich sind uns einig und wir wollen dafür zusammenarbeiten, jüdisches Leben zu schützen und zu stärken. Wir wollen jüdisches Leben in der Kultur sichtbarer und hörbarer machen. Wir wollen noch stärker gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, gegen Islamophobie und jede Form von Menschenfeindlichkeit gemeinsam vorzugehen. Denn der Artikel 1 unseres Grundgesetzes in Deutschland sagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar – die Würde jedes Menschen.
Zur Gedenksteinverlegung im Jahr 2018 für ihre Eltern Ilka und Paul Traube in der Wiener Heinestraße 7 haben Sie, lieber Herbert Traube, gesagt: „Niemals darf sich das damals Geschehene wiederholen, es ist unerlässlich, beim kleinsten Auftauchen eines Zeichens von Rassenhass zu reagieren. Jeder, jede ist verantwortlich!“ Die Absage an Hass und Gewalt, an Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit in jeder Form ist nicht nur eine staatliche Aufgabe, sie geht uns alle an.
Enden möchte ich mit Hanni Lévy, mit einem Auszug aus einer Rede, die sie am Holocaustgedenktag dem 27. Januar 2018 in Deutschland gehalten hat: „Erinnerungen bleiben nur dann lebendig, wenn man sie weitergeben kann! In unserer heutigen hastigen Zeit, in der sich Ereignisse, Neuigkeiten und immer neue Idee überschlagen, bleibt nicht viel Platz für das Erinnern – und doch sollte man es tun. Denn mit Betroffenheit stelle ich fest, dass alte Rezepte wieder aufgewärmt werden, und wieder offene Ohren finden!“
Deshalb ist die Arbeit einer Institution wie das Mémorial de la Shoah so wertvoll, deshalb ist ein gemeinsames Erinnern für die Zukunft von Deutschland und Frankreich so wichtig, deshalb ist ein Abend wie unser Abend hier und heute so bedeutsam!
Ich danke Ihnen.