FR: Frau Roth, Ihr erstes Jahr als Kulturstaatsministerin war von Krisen überzogen. Sind Sie zu dem gekommen, was Sie eigentlich vorhatten?
Claudia Roth: Es war ein anspruchsvolles Jahr. Die Pandemie mit ihren massiven Auswirkungen auf den Kulturbereich war noch nicht vorbei. Ich habe erfolgreich dafür gekämpft, dass die Berlinale stattfinden konnte. Dann kam der 24. Februar, der alles veränderte. Der Krieg war auf einmal so nah. In der Ukraine hat das Putin-Regime mittlerweile über 1.000 Kultureinrichtungen angegriffen, schwer beschädigt und teilweise zerstört – mit dem Ziel, die kulturelle Identität des Landes auszulöschen. Bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan wurde auf berührende Art deutlich: Das ist ein Friedenspreis in Zeiten des Krieges! Kunst und Kultur haben vor diesem Hintergrund eine ganz andere Bedeutung bekommen. Sie sind Lebenselixier für die Demokratie. Eine weitere Problematik ist die Energiekrise, nicht erst seit dem russischen Lieferstopp: Auch befinden wir uns mitten in einer dramatischen Klimakrise. Das ist ein Berg an Herausforderungen, in einer Zeit, in der du nicht in der Normalität ankommen kannst. Der Ausnahmezustand ist das neue Normal. Und ich denke, das wird im kommenden Jahr genauso weiterlaufen. Ob ich schon alles angefangen oder abgearbeitet habe? Nein, natürlich nicht!
Dennoch sind Sie zufrieden mit Ihrer Arbeit?
So einiges konnte ich aufs Gleis setzen und manche Weichen neu stellen, denke ich. Als ich angetreten bin, habe ich gesagt: Ich möchte die Kulturministerin der Demokratie und für die Demokratie sein. Ich will nicht nur Kulturverwaltung, sondern Kulturpolitik machen, den Kulturbegriff erweitern und demokratisieren, mehr Diversität, Teilhabe und Nachhaltigkeit ermöglichen. In diesem Jahr ist klar geworden, dass Kunst und Kultur in der Demokratie kein Nice-to-Have sind, dass sie nicht einfach wegfallen können, wenn die Zeiten härter werden, sondern ganz im Gegenteil. Ich habe wie eine Löwin dafür gekämpft, dass Museen, Theater und andere Kultureinrichtungen nicht wegen der steigenden Energiekosten schließen müssen. In diesen Zeiten können sie sinnstiftend zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen. Ich habe innerhalb der Bundesregierung eine Milliarde Euro erkämpft, damit wir helfen können, die gestiegenen Energiekosten auszugleichen – wobei die Kultureinrichtungen aufgefordert sind, mit Energieeinsparungen von 20 Prozent das Ihre dafür zu tun.
Der Eklat um die documenta fifteen hat ein ganzes Jahr Kulturpolitik überschattet und auch die Frage nach der Rolle der Staatsministerin bei einer international ausstrahlenden Kulturveranstaltung aufgeworfen. Rückblickend haben Sie gesagt, dass Sie lauter und deutlicher hätten sein sollen. Wie meinen Sie das genau?
Es war schlimm und ein echter Negativpunkt in diesem Jahr, was passiert ist. Ich bin ein großer Fan der Documenta, ich war gespannt auf die Perspektive des globalen Südens. Ich habe mich darauf verlassen, dass mir Geschäftsführung und Kuratoren der Documenta versichert haben, es werde selbstverständlich keinen Antisemitismus geben bei dieser Ausstellung. Und dann wurde eindeutig antisemitische Bildsprache gezeigt. Und auch wenn ich institutionell nicht in einer Situation war, durchgreifen zu können – bei dieser Grenzüberschreitung hätte ich noch lauter sein müssen. Denn natürlich hatte und habe ich als Kulturstaatsministerin die Aufgabe, die Kunstfreiheit zu sichern – aber wir müssen zugleich klarmachen, dass öffentliche Förderung auch eine besondere Verpflichtung für die Verantwortlichen, wie etwa die Geschäftsführung der Documenta, beinhaltet, und dass die Kunstfreiheit ihre Grenze hat, wenn Artikel 1, unser moralischer Imperativ, der Schutz der Menschenwürde, tangiert wird. Wir müssen die Verletzung, die Sorge und die gefühlte Einsamkeit von Jüdinnen und Juden stärker wahrnehmen. Wir müssen uns auseinandersetzen, das habe ich auch im Deutschen Bundestag gesagt, mit antisemitischen Mustern auch in antikolonialistischen Diskursen. Meine Konsequenz aus der documenta fifteen ist, dass ich zukünftig nicht bereit bin, Bundesgelder zur Verfügung zu stellen, wenn es nicht gleichzeitig eine klare Beteiligung innerhalb der Strukturen gibt.
Wie könnte die Mitsprache des Bundes aussehen, ohne sich inhaltlich einzumischen?
Es geht um keine kuratorische Mitbestimmung, sondern um eine Strukturreform. Die Frage danach, wie eine Mitsprache des Bundes bei der Documenta aussehen könnte, wie sie gestaltet wird, hängt auch vom Land Hessen ab, das großes Interesse an einer Beteiligung des Bundes signalisiert hat, und von der Stadt Kassel, in der demnächst Oberbürgermeisterwahlen sind.
Mittlerweile liegt Ihnen das Gutachten zur Documenta des Verfassungsrechtlers Christoph Möllers vor, in dem herausgestellt wird, dass Kunstfreiheit auch für politische Kunst gilt. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Das Gutachten werten wir gerade noch aus. Was ich schon jetzt sagen kann: Ich fühle mich durchaus bestätigt in meiner Einschätzung von Kunstfreiheit und von den Grenzen der Kunstfreiheit. Auch Professor Möllers sieht in der kollektiven Verantwortungslosigkeit ein großes Problem der documenta fifteen. Und er beschreibt noch einmal genau die normativen Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft.
Es geht in dem Bericht auch darum, dass die Umsetzung der BDS-Resolution von 2019, nach der BDS-Unterstützer:innen keine öffentliche Förderung erhalten sollen, im Grunde ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit ist. Was bedeutet das? Dass wir BDS-Anhängerschaft bei wichtigen Personalien in der Kultur und deren Überzeugungen in Kulturprogrammen akzeptieren müssen?
Nein, das stimmt so nicht. Sondern das Gutachten beschreibt noch einmal, was auch das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat, dass der BDS-Beschluss des Bundestages ein sogenannter einfacher, d. h. politischer Beschluss ist. Klar ist: Es geht nicht, in Deutschland öffentlich BDS zu propagieren. Wenn ein Künstler aber ein künstlerisch interessantes Werk schafft, was mit BDS nichts zu tun hat, ist das kein ausreichender Grund, ihn von einer Förderung auszuschließen. Was wir nicht wollen, das ist Werbung für den BDS. Was wir nicht brauchen, ist eine Gewissensprüfung. Meine Linie ist: Wir bekämpfen Antisemitismus in all seinen Formen, und ich bin gegen Boykotte, gerade gegen Kulturboykotte. Schon deswegen habe ich mich als Kulturstaatsministerin sehr deutlich geäußert, als BDS-Aktivisten und -Aktivistinnen offensiv interveniert haben und versucht haben, Boykotte beim Festival Pop-Kultur Berlin durchzusetzen. Das geht überhaupt nicht, das ist eine Einschränkung der Kunstfreiheit! Allerdings sollten wir auch sehr aufpassen, nicht vorschnell weltweit Kulturschaffende zu verdammen, die möglicherweise auch scharf israelkritische Appelle unterzeichnet haben, oder deshalb Kunstwerke abzusetzen. Das gilt übrigens auch für russische Kunst und Kultur. Natürlich soll man Tschaikowski noch aufführen dürfen, auch wenn Putin einen grauenhaften Krieg führt.
Am Montag wurde die Reform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) beschlossen – und die öffentliche Kritik folgte sofort. Es sei eher ein Reförmchen, das nicht weitreichend genug sei, die Machtstrukturen nicht auflöse, die 17 Museen der Stiftung nicht genügend in ihrer Eigenständigkeit stärke. Es fehle an Geld und Personal. Wie kommt diese Kritik bei Ihnen an?
Das ist eine seltsame Auffassung von Kultur und von Reform, wenn das einzige Kriterium Geld ist. Es ist ein großes Reformprojekt, das ich nun auf den Weg gebracht habe. Der Schritt weg von dem einen Präsidenten hin zu einem Kollegialvorstand auf Augenhöhe war sehr groß. Die Museen der Stiftung werden in die Lage versetzt, ihre eigenen Budgets zu verwalten. Sie haben eine größere Autonomie gefordert, wollten dabei aber nicht den Gesamtzusammenhang verlassen, um gemeinsame Synergieeffekte nutzen zu können. Der Kollegialvorstand soll nun Querschnittsthemen der Häuser bearbeiten, zum Beispiel: Klimakrise, Nachhaltigkeit, Diversität. Die Aufgabe der einzelnen Häuser ist es zu überlegen: Wie gehen wir mit dem vorhandenen Budget um, welche Projekte können wir damit finanzieren?
Es war mir wichtig, die föderative Verantwortung deutlich zu machen. Bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz handelt es sich nicht um eine Berliner Lokalgeschichte, sondern um eine der größten Kunstsammlungen der Welt. Sie könnte ganz oben mitspielen, das tut sie aber nicht – weder von den Besuchszahlen, noch vom Ansehen her. Im Ausland wissen die wenigsten, was hinter der SPK steckt, und schon gar nicht denken die Menschen dabei an Warhol und Beuys. Deswegen geht es darum, diesen Schatz, der noch zu sehr im Verborgenen ruht, zu öffnen, ihn zugänglich zu machen. Und Bayern, Sachsen, Nordrhein-Westfalen – alle Länder sollen sehen: Das ist auch unsere Schatztruhe. Die Bundesländer sind alle im Stiftungsrat vertreten, ihre finanzielle Beteiligung liegt bei 16 Prozent. Aber wenn der Mehrwert klar ist, kann man ganz anders mit den Ländern über eine finanzielle Beteiligung reden. Da gibt es natürlich einen deutlichen Erweiterungsbedarf.
Sie haben einmal gesagt, dass die SPK an Glanz und Bedeutung gewinnen soll. Da muss also jetzt noch kräftig poliert werden?
Nein, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz wird nicht aufpoliert, sondern auf ganz neue Beine gestellt; im Verbund mit dem Hamburger Bahnhof, den wir gerade gekauft haben, und mit dem Museum des 20. Jahrhunderts, das jetzt dank der Unterstützung durch das Parlament auch die von mir gewünschten strengeren Nachhaltigkeitskriterien berücksichtigen wird. Es entsteht eine ganz neue Dynamik an den Häusern, die jetzt mit voller Eigenverantwortung handeln.
Der Bau des Museums des 20. Jahrhunderts wird wegen der Ausbesserungen viel teurer als anfangs geplant. Was erwartet uns, wenn das Museum fertig ist? Können Sie schon mal einen Blick für uns hineinwerfen?
Das künstlerische Konzept wird von Klaus Biesenbach, dem Direktor der Neuen Nationalgalerie, ausgearbeitet. Für uns beide ist klar, dass es keine „Scheune“ für Gerhard-Richter-Bilder – was für dessen Kunst auch nicht angemessen wäre –, kein klassisches Museum werden soll, sondern ein offenes Haus mit Theater, Film, Aktionen. Das Verhältnis von Mensch und Natur wird eine wichtige Rolle spielen. Die Betonwüste um das Kulturforum herum soll grüner werden, es wird eine Verbindung zwischen Gemäldegalerie, Neuer Nationalgalerie, Museum des 20. Jahrhunderts und Philharmonie entstehen. Es soll ein Ort geschaffen werden, an dem Kunst ausstrahlen kann und an dem sich Kunst in der Klimakrise einbringt.
Zum Thema Nachhaltigkeit: Der Kultursektor ist sehr ressourcenintensiv mit den vielen Konzerten, voll klimatisierten Museumsräumen, Wegwerf-Theaterkulissen, aufwendigen Filmdrehs, den Kunsttransporten und Tourneen von Musikerinnen und Musikern und Orchestern. Wie wollen Sie dieses Problem in den Griff bekommen?
Wir haben dafür das Referat Nachhaltigkeit in unserem Haus eingerichtet und sind dabei, eine Anlaufstelle „Green Culture“ aufzustellen, wo Informationen und Erfahrungen gesammelt und ausgetauscht werden. In Berlin wurden in diesem Jahr nachhaltige Konzerte von den Toten Hosen und den Ärzten für 60 000 Menschen auf die Beine gestellt. Museen müssen sich darüber austauschen, wie sie Energien sparen, welche neuen Technologien sie dafür brauchen. In der Filmbranche gibt es Initiativen zum „Green Shooting“. Die Frage für mich ist: Wie richten wir die Kulturinfrastruktur, die Theater, Opernhäuser aus, damit sie sich auf die Klimakrise einstellen können, damit sie resilient werden? Dazu werden wir im kommenden Jahr Regionalkonferenzen veranstalten. Es ist auch sehr spannend zu sehen, wie das Thema Klimakrise immer stärker künstlerisch bearbeitet wird. Auch das will ich unterstützen.
Was die Diversität und den Frauenanteil im Kultursektor angeht, gibt es noch immer großen Handlungsbedarf. Es ist ein traditionell weißer, männerdominierter Bereich, vor allem, was Leitungsposten angeht. Wäre die Kopplung der Vergabe von Fördermitteln an die Einhaltung einer Quote denkbar?
Ich bin eine Freundin der Quote, deswegen wäre ich für eine solche Idee offen. Mindestens die Hälfte der Neubesetzungen sollte bei gleicher Qualifizierung mit Frauen erfolgen. Wir wollen mehr Frauen in Direktorinnenposten! Wichtig ist auch die Zusammensetzung von Jurys. Wenn nur Männer dort sitzen, werden andere ausgezeichnet als bei einer diverseren Jury. Was das Thema Bezahlung angeht, muss auch noch viel getan werden: Der Gender Pay Gap ist in der Kultur viel dramatischer als in anderen Bereichen. Und bei der Vergabe von Kino-, Club- und Buchhandlungspreisen fällt auf, dass es keine Bewerbungen mit türkischem oder arabischem Background, also im Grunde keine Diversität gibt. Wir müssen daran arbeiten, diese Mauern einzubrechen. Das ist auch eine Idee des „KulturPasses“: Es geht darum, Anreize zu schaffen für alle jungen Menschen, die im kommenden Jahr 18 werden. Sie bekommen ein 200-Euro-Guthaben, das sie für Bücher, Eintrittskarten fürs Theater oder den Club ausgeben können, was auch dem kommunalen Theater, dem Plattenladen hilft. In Frankreich läuft das Projekt seit Mai, dort profitieren insbesondere Buchläden und Kinos davon.
Ob die Jugendlichen dann auch Museen, Opern, klassische Konzerte besuchen?
Es wird auch darauf ankommen, wie sich die Einrichtungen darum bemühen. Ab Februar, März können sie sich registrieren lassen; dann schauen wir, was im Angebot ist. Es wäre natürlich toll, wenn sich junge Menschen, die das bislang vielleicht überhaupt nicht auf dem Schirm hatten, denken: Das ist ’ne interessante Bude, da gehe ich mal rein. Und gehen dann in eine Mozartoper und finden das megacool. Das kann neue Perspektiven eröffnen. Die ersten Interessenten, die sich zu meiner Freude bei mir gemeldet haben, waren die Preußischen Schlösser und Gärten. Ich bin mir nicht sicher, ob die 18-Jährigen als Erstes daran denken, ein Schloss zu besuchen – aber warum eigentlich nicht?