Was wäre geschehen, wenn die Friedliche Revolution gescheitert wäre? Wie hätte sich der Lauf der Geschichte verändert, wäre die SED-Führung dem Aufbegehren der DDR-Bürgerinnen und Bürger im Herbst 1989 ähnlich brutal begegnet wie die chinesische Regierung den Massenprotesten am Tian’anmen-Platz? Eine Niederschlagung der Proteste in der DDR war damals durchaus im Bereich des Möglichen.
Die Ausstellung „Roads not taken“ im Deutschen Historischen Museum (DHM) stellt beide Optionen einander gegenüber – die Wirklichkeit der geglückten Revolution und die Möglichkeit ihrer blutigen Niederschlagung. Anhand dieser und 13 weiterer historischer Schlüsselmomente stellt sie die Frage, welche alternativen Geschichtsverläufe auch möglich gewesen wären – Verläufe, die in der jeweiligen Situation angelegt waren, letztlich jedoch nicht eingetreten sind.
Ob es so oder auch anders hätte kommen können und welcher Weg tatsächlich der bessere gewesen wäre, sei ja nicht nur ein interessantes Gedankenspiel, zu dem uns die Ausstellung einlade, sagte Kulturstaatsministerin Claudia Roth bei der Eröffnung der Ausstellung am 8. Dezember 2022. „Die Frage, ob es in einer historischen Situation Entscheidungsoptionen gab, und warum diese und nicht etwa eine andere Entscheidung getroffen wurde, ist doch der Beginn jeder Beschäftigung mit Geschichte. Jedenfalls jeder sinnvollen, weil Erkenntnis bringenden Beschäftigung mit ihr“, so Roth.
Einladung zu einem Gedankenexperiment
Beginnend beim jüngsten Ereignis – dem Fall der Berliner Mauer – führt die Schau bis ins Jahr 1848 zurück, als Deutschland erstmals den demokratischen Aufbruch wagte und scheiterte. Die Besucherinnen und Besucher blicken mit den Augen eines Historikers auf die Ereignisse. Der eingetretenen Wirklichkeit tritt stets ein alternativer Geschichtsverlauf gegenüber und wirft die Frage auf, warum es nicht anders gekommen ist?
Greifbar werden die Ereignisse und die ihnen gegenübergestellten, nicht-realisierten Möglichkeiten anhand zahlreicher Objekte: Beispielsweise dem Foto einer Friedensdemonstration in Berlin vom Juli 1914, bei der sich knapp 100.000 Menschen versammelten, um gegen den bevorstehenden Ersten Weltkrieg zu protestieren. Einem Stein der Brücke von Remagen, deren missglückte Sprengung möglicherweise auch den Abwurf einer Atombombe auf Deutschland 1945 verhinderte. Und einer Münze, die die Stadt Frankfurt 1949 zur Wahl Friedrich Wilhelms zum Kaiser prägen ließ und die schließlich nie zum Einsatz kam.
Ausstellungsexperiment mit neuen Vermittlungsformaten
Mit ihrem ungewöhnlichen Ansatz begibt sich die Schau nicht nur inhaltlich-kuratorisch auf neue Pfade der Geschichtsvermittlung. Sie experimentiert auch bei der Gestaltung. Während die real eingetretenen Ereignisse klar konturiert und in nüchternem Schwarzweiß präsentiert werden, sind die Alternativszenarien farbenfroh und in unscharfen Linien inszeniert.
Neue Wege der Vermittlung geht das DHM auch mit der Gamestation, einer interaktiven Graphic Novel, die das Publikum am Ende der Ausstellung und auf der DHM-Website erwartet. Sie versetzt es ins Leipzig des 9. Oktober 1989. Am Beispiel von sieben verschiedenen Charakteren – historischen und fiktiven Personen - können die Besucherinnen und Besucher diesen Tag nacherleben, selbst Entscheidungen treffen und dabei erleben, dass Geschichte ein offener Prozess ist.
„Roads not taken“ ist bis zum 24. November 2024 im DHM in Berlin zu sehen. Die Schau wird begleitet von einem umfassenden Veranstaltungs-, Bildungs- und Vermittlungsprogramm. Neben einer Gesprächsreihe und Führungen gibt es auch das digitale Angebot „More Story“ mit Hintergrundinformationen zu den Themen der Ausstellung. Im Januar startet außerdem eine Filmreihe, die sich mit alternativen Geschichtsszenarien beschäftigt.