− Es gilt das gesprochene Wort −
Ich bedanke mich von ganzem Herzen, dass Sie heute zu uns gekommen sind, und dass Sie in Zeiten voller Trauer, voller Angst und Schmerzen, in dieser Zeit voller Fragen, diese Stunden mit uns verbringen – sehr intensive Momente mit uns verbringen.
Wie recht hat Oliver Guez! Ich glaube, wir spüren, wie wichtig diese Grand Tour durch Europa ist, diese Tours d’Horizon durch unsere Geschichte, durch unsere Kultur, durch unsere Kulturen. Sie zeigt, dass wir zusammengehören, gerade in diesen Tagen des Schmerzes, der Trauer und der Angst; sie zeigt, dass wir die Geschichte und Kultur Europas teilen. Mehr noch: Diese Tour d‘Europe macht uns diese Zusammengehörigkeit bewusst, sie erklärt uns, was es heißt, eine gemeinsame Geschichte und Kultur zu haben.
Man kann die Geschichte der europäischen Idee tatsächlich als Grand Tours erzählen, wie es Eva Menasse in ihrem wunderbaren Essay getan hat, und den Bogen spannen vom chinesischen Nachbau des oberösterreichischen Fleckens Hallstatt bis in den ursprünglichen Ort im Salzkammergut, um am Ende die Frage zu stellen, was an dieser Idee nun Fiktion geblieben ist und was – möglicherweise – Realität geworden ist. Oder man erzählt sie im Kleinen, als Geschichte einer Stadt, wie Michal Hvorecký es getan hat mit seiner Stadt.
Was wir aus all diesen großen und kleinen Geschichten lesen, ist am Ende Familiengeschichte, die Geschichte der europäischen Familie. Wir alle sind ihre Protagonisten und Protagonistinnen, Großväter und -mütter, Mütter und Väter, Kinder und Enkel, Glieder einer Kette von Generationen und Schicksalen, von Liebe und Hass, Krieg und Frieden. Und alles, woran wir uns erinnern, was wir von unseren Müttern und Großmüttern gehört und unseren Kindern erzählt haben, verdankt sich diesem historischen Zusammenspiel willkürlicher Zufälle und menschlichem Handeln.
Es ist unsere Geschichte. Und was aus ihr erwächst, ist Literatur, ist Musik, ist Kunst. Ein Buch mag einen französischen, italienischen oder deutschen, einen österreichischen oder polnischen Autor oder Autorin haben, es ist immer auch europäischen Ursprungs. Das ist kein europäisches Prinzip. Auf diese Weise sind wir überall auf der Welt zu Menschen geworden. Es ist ein universelles Prinzip: das der Kultur.
Es erklärt auch unsere Reaktion auf den Krieg in der Ukraine. Er löst überall auf der Welt Entsetzen aus. Aber warum betrifft er uns auf eine so besondere Weise? Warum ist es schier unerträglich, nur zuzusehen, nicht eingreifen, nicht mehr eingreifen, nicht mehr verteidigen zu können? Weil dieser Krieg uns begreifen lässt: Die Aggression gilt auch uns. Wir sind es auch, die angegriffen werden, es ist unsere Kultur, unsere Art zu leben, unsere Art zu denken, unsere Art zu lieben, unser demokratisches Zusammenleben. Und wer die europäische Geschichte kennt, wird auch die Abgründe wiedererkennen, in die wir blicken, die furchtbaren und furchterregenden Irrtümer, die wir überwunden glaubten.
Wir erkennen in den Ukrainerinnen und Ukrainern, wir erkennen in den aufbegehrenden Belarusen und Belarusinnen, wir erkennen in den Russinnen und Russen, die auf offener Straße zusammengeprügelt werden, unsere europäischen Schwestern und Brüder. Und alles, was wir jetzt noch tun können, damit sie diesem Angriff standhalten, ihn überleben und leben können, leben, wie sie es wollen, das müssen wir tun.
Ich danke Oliver Guez, Eva Menasse, Michal Hvorecký, Agata Tuszyńska, Daniel Kehlmann, Marianna Sadovska und allen Beteiligten für diesen berührenden Abend!