− Es gilt das gesprochene Wort −
Vier Konzentrationslager hatte Boris Romantschenko überlebt, als er 1945 von der britischen Armee in Bergen-Belsen befreit wurde. Er war 19 Jahre alt und wog noch 34 Kilogramm, als sein Martyrium endete. Als 16-Jährigen hatte man den Sohn einer Bauernfamilie aus Sumi, im Nordosten der Ukraine, zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt, erst nach Peenemünde, dann nach Buchenwald und Mittelbau-Dora, schließlich nach Bergen-Belsen. Er kehrte in seine Heimat zurück, studierte an der Bergbauakademie in Charkiw und arbeitete als Ingenieur. Dort ist er vor wenigen Tagen, 96 Jahre alt, in seiner Wohnung verbrannt, getötet von einer Bombe, die sein Haus getroffen hatte. Die Angriffe der russischen Armee auf die ukrainische Universitätsstadt Charkiw dienen nach der Logik ihrer Führung der Entnazifizierung der Ukraine. Es gibt keine Worte des Trostes. Es bleibt nur Trauer und Zorn. Trauer um Boris Romantschenko. Und Zorn über die Perfidie, mit der die Mörder ihr Tun rechtfertigen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen für die Einladung und für Gelegenheit, heute hier sprechen zu können. Ich muss gestehen, es fällt mir nicht leicht, vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, die Bilder der Verzweifelten, der Ausgebombten vor Augen.
Ausgebombt, geflüchtet, vertrieben – wir erinnern uns an diese Worte. Vor weniger als zehn Jahren sind wir erinnert worden an die Schrecken von Flucht und Vertreibung, als nach dem Beginn des Syrienkriegs, Hunderttausende nach Europa flohen. Nun ist der Krieg, sind Flucht und Vertreibung nach Europa zurückgekehrt. Und wir müssen die Bedeutung dieser Worte noch einmal neu lernen.
Die ersten Bilder überfüllter Bahnsteige in den ukrainischen Städten haben mich sprachlos gemacht: Frauen, die sich von ihren Männern verabschieden müssen, Väter, die sich von ihren weinenden Kindern verabschieden, die fassungslosen Gesichter der älteren Menschen, ihre hastig zusammengeraffte Habe, Haustiere, die man nicht zurücklassen wollte. Bilder eines Krieges.
Ich höre von vielen Menschen, in denen Schrecken, Angst und Trauer wieder aufsteigen. Wer heute 80 Jahre und älter ist, hat erlebt, was wir Jüngeren nun täglich in den Abendnachrichten sehen: Bombenangriffe, den Abschied vom Vater, den Verlust von Angehörigen, Flucht und Vertreibung. Die Erinnerung daran ist schmerzhaft. Doch sie ist wichtig. Wir sind hier in einem Dokumentationszentrum, einer Bildungseinrichtung, einem Ort für Ausstellungen und Veranstaltungen, das in seinem Zeitzeugenarchiv eben diese Bilder bewahrt. Es sind Zeugnisse einer Epoche deutscher, europäischer und internationaler Geschichte, ein Archiv für das Wissen um die Angst, den Schmerz und, ja, auch die Schuld. All das hielten wir für vergangen, für erforscht und aufgearbeitet, eingegangen in die Geschichtsbücher. Doch es reicht ein Einzelner – immer noch – der das europäische Geschichtsbuch aufschlägt und sagt: Ich bin nicht einverstanden mit eurer Geschichte. Ich kenne eure Geschichte nicht.
Meine Damen und Herren, wir wollen eine Ausstellung eröffnen, die an die Folgen von Ausgrenzung und Vertreibung erinnert, an die Folgen der Shoa, die Folgen des letzten großen Krieges in Europa, an Millionen getöteter und entwurzelter, vertriebener europäischer Jüdinnen und Juden. Es dauerte, bis die deutsche Nachkriegsgesellschaft dem Entsetzen über das Ausmaß dieses Verbrechens Raum gab. Denn es war eben gerade mehr als ein Kriegsverbrechen: Der nationalsozialistische Staat hatte den Krieg genutzt, um seine materiellen und ideellen Ressourcen für ein Mordkommando abzustellen. Vor allem das begründet die Einmaligkeit des Holocausts.
Für die Überlebenden in den Displaced Persons Camps bedeutet das nach 1945 nicht nur weiter im Land der Täter zu leben, sondern umgeben von Tätern. Es war ein sehr weiter Weg aus diesen DPDisplaced Persons-Camps in ein Deutschland, in dem Jüdinnen und Juden wieder leben wollten. Von Ihnen, den displaced persons, erzählt diese Ausstellung, von ihrem Mut, von ihren Bemühungen, an eine Vorkriegskultur anzuknüpfen, die es nicht mehr gab, vom Neuanfang in Israel und vom Überleben im Deutschland der Nachkriegszeit.
Versöhnung ist ein sehr persönliches Unterfangen. Man kann ihr den Weg bereiten, ja. Aber sie ist ein Werk von Generationen. Deutschland kann dankbar sein für dieses große Geschenk. Meine Generation war, je länger dieser Krieg zurücklag, nur um so überzeugter, dass „nie wieder Krieg“ eine europäische Gewissheit geworden war! Als uns diese Gewissheit abhandenkam, blieb die Überzeugung: Einen solchen Krieg, einen großen, einen europäischen, einen Weltkrieg darf es nie mehr geben! Wir dachten, wir hätten ihn vertrieben aus Europa. Nun müssen wir lernen, mit seiner Gegenwart zu leben, ohne uns von der eigenen Angst besiegen zu lassen, ohne uns der eigenen Ohnmacht zu ergeben, Mut zu haben. Und wir müssen lernen, die Zeichen der Zeit besser zu deuten als wir das bisher getan haben.
Diese Ausstellung kann uns dabei helfen, die Erinnerung kann uns dabei helfen, Ihre Erinnerungen, liebe Frau Szepesi, lieber Herr Ben! Ich danke Ihnen von Herzen dafür, dass Sie diese Erinnerungen, dass Sie Ihre Erinnerungen mit uns teilen.