– Es gilt das gesprochene Wort –
Vorgestern noch war ich in Odessa, in einer Stadt im Kriegszustand. Eine Reise, die mich tief bewegt hat, tief berührt hat und sehr aufgewühlt hat. Zurück in Berlin, bin ich immer noch nicht ganz wieder hier. Krieg, Bedrohung, Alarm in der Nacht – das sind existenzielle Erfahrungen. Sie wirken nach, sie relativieren vieles und sie überlagern vieles. Man erlebt, dass Angst und Wut, Ohnmacht und Auflehnung, Enthusiasmus und Verzweiflung ganz nahe Verwandte sind.
Für eine Kulturstaatsministerin auf Besuch aus Berlin wird in einer belagerten Stadt vieles sichtbar. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn: Man muss in Odessa niemanden nach dem wunderschönen Opernhaus fragen. Jedes Kulturdenkmal in der Stadt ist markiert, hinter Sandsäcken, hinter Panzersperren verschwunden – eine Geste der Verzweiflung.
Sichtbar und erfahrbar wird so der Wert all dessen, der unglaubliche Wert eines Opernhauses, einer Philharmonie, eines Filmstudios, einer Bibliothek, eines Kinos oder Theaters. Das Ringen der Menschen darum, diese Orte zu erhalten, diese Orte nicht zu verlieren, sie lebendig zu halten. Eine Bibliothek, deren Leiterin mir mit Tränen in den Augen erklärte, wie sie versuchen, ihren Bestand von fünf Millionen Büchern zu erhalten. Der unbedingte Wille, sich diesem Aggressor entgegenzustellen, einem Aggressor, der ein souveränes Land angreift, der Frauen, Männer und Kinder ermordet, der lügt und der einen Krieg gegen die Kultur führt, einen Krieg, der die Kultur und damit auch die kulturelle Identität der Ukraine zerstören will. Und dass dies ein systematischer Krieg ist, das zeigen die Zahlen, die mir mein ukrainischer Kollege in diesen Tagen gezeigt hat. Eine Liste mit 375 Kultureinrichtungen, die angegriffen worden sind. Theater, Museen, Kirchen.
Sie zu verlieren in einem Krieg und an einen Gegner, der bereit ist, alles zu zerstören, was sich der Dominanz Russlands nicht fügen will. Das ist die große Sorge dort.
Dass russische Raketen Opernhäuser, Bibliotheken und Theater treffen, die ebenso russisch wie ukrainisch sind, macht die Absurdität dieses Krieges vielleicht nirgendwo offensichtlicher als dort.
Odessa war immer auch eine russische Stadt, die vielleicht russischste Stadt in der Ukraine. Heute ist die Stadt für Russland verloren, verloren, noch bevor ein russischer Soldat einen Fuß über die Stadtgrenze gesetzt hat. Wer vor dem Krieg pro-russisch war, ist es nun ganz sicher nicht mehr. Wird es nie mehr sein.
Und die Kultur Odessas? Ist sie nun ukrainisch oder russisch? Oder war sie immer beides? Ist sie geblieben, was sie war, oder entsteht hier eine neue kulturelle Identität? Als Kulturpolitikerin kann man hier einiges lernen.
Zwei Tage Odessa, das waren zwei Tage an der Frontlinie zwischen Demokratie und Autokratie und eine Lektion darin,
- dass Kunst und Kultur kein Luxusgut nur für gute Zeiten sind. Sie sind ein Lebenselexier, die Stimme der Demokratie!
- eine Lektion darin, dass Kultur, dass Kunst, Literatur, Malerei und Musik Freiheit brauchen, die Freiheit, sich nicht zwischen Nationalitäten entscheiden zu müssen.
- und eine Lektion darin, dass einer gewachsenen multikulturellen Gesellschaft eine vorgeblich überlegene „Nationalkultur“ aufzwingen zu wollen, nicht nur eine gefährliche, sondern eine selbstmörderische Idee ist.
Wenn ich hier, auf dem Kulturpolitischen Bundeskongress in Berlin, über Odessa spreche, dann deshalb, weil die Gefährdung all dessen, was uns hier beschäftigt – Gesellschaften, die in einer krisenhaften Situation nach einem demokratischen Miteinander suchen, dort, in Odessa, wie in Charkiw, wie in Lwiw, wie in Mariupol und in Kiew – in Butscha – blutige und grausame Realität geworden ist.
Aber es gibt daneben noch etwas anderes, das am Beispiel Odessas deutlich wird. Die Überlegenheit einer noch so unvollkommenen Demokratie gegenüber der Autokratie. Denn die Gefahr, in der die Stadt lebt, die Androhung von Freiheitsentzug, stößt auf einen unbändigen Widerstand, der erkennen lässt, dass dort niemand bereit ist, die einmal erlebte und gelebte Freiheit des Wortes, der Presse, der Kunst und Kultur wieder preiszugeben.
Eine einmal gewonnene und erprobte Freiheit, das gilt in Odessa wie überall, ist nur mit restriktiver Gewalt wieder einzuschränken oder, schlimmer noch, mit brutaler Waffengewalt zu unterbinden. Das kann, wer will, in einer Stadt wie Odessa lernen. In einer Hafenstadt zumal, einer offenen, zum Meer hin offenen Stadt, die, wie alle diese Städte ein Einfallstor ist, ein Einfallstor für Neues, für Fremdes, für Einflüsse aller Art, literarische, musikalische, künstlerische Einflüsse – ein großer Marktplatz der Kulturen.
Gehandelt wurde und wird nie nur mit Waren, gehandelt wird auch mit Formen, mit Farben und Stilen. Was gefällt, wird geteilt. Diese Offenheit für Einflüsse, für Formen und Stile, ist es, die ich unter einen erweiterten Kulturbegriff fassen möchte. Er lässt Konkurrenzen zu, auch Reibung, wendet sich aber gegen jeden künstlichen Reinheitsbegriff von Hochkultur oder von Nationalkultur.
In einer globalisierten Welt, in der wie leben, sind solche Abstraktionen doch auch wirklich realitätsfern. Ich glaube nicht, dass man Generationen, die in dieser globalisierten Welt aufgewachsen sind, die ganz unterschiedliche Wurzeln haben, erklären muss, warum ein erweiterter Kulturbegriff neben der Klassischen Musik, der Oper oder der Chormusik auch die Popmusik umfasst, warum er neben der klassischen Literatur natürlich auch den poetry slam meint. Erklärungsbedürftig wäre ein Kulturbegriff, der völlig unberührt von der Gegenwart bliebe, von ihrer Gegenwart, der Gegenwart dieser Generationen. Und es braucht die Heimaten der Kultur, die Heimaten, wo man hingehört und wo man gebraucht wird.
Vielfalt ist die Bedingung von Kultur, eine kreative und produktive Vielfalt, aus der Neues hervorgeht. Und produktiv heißt nicht in jedem Fall, dass kulturelle Eigenarten im dialektischen Sinn ineinander aufgehen sollen. Sie sollen nicht abgeschliffen oder eingeebnet werden. Ihr Nebeneinander ist produktiv, es erzeugt Reibung. Sie kann konfliktreich sein, aber eben auch bereichernd. Für diese Vielfalt in Freiheit zu sorgen, ist Aufgabe einer demokratischen Kulturpolitik.
Deutschland ist ein Einwanderungsland, ist eine multikulturelle demokratische Gesellschaft, die eine gleichberechtigte Teilhabe kultureller Minderheiten, eine Sicherstellung ihrer Rechte und die Verhinderung von Machtmissbrauch durch politische Eliten gewähren will und gewähren muss. Eine demokratische Kulturpolitik muss dafür sorgen, dass sie es auch kann.
Akzeptanz, mehr noch als Toleranz, und Verständigung brauchen Voraussetzungen.
Sie sind aber auch selbst Voraussetzung für Multikulturalität, für Vielfalt und Diversität. Genau das sind Stärken einer Gesellschaft. Sie stärken, was man heute Resilienz nennt, die Fähigkeit, sich auch in Krisen zu verständigen, sie zu bestehen und zu überwinden. Man kann Einfluss nehmen auf diese Faktoren, indem man sie fördert, unterstützt oder sie doch wenigstens nicht behindert. Verordnen kann man sie nicht.
Doch was bedeutet das in der Praxis? Zu den Aufgaben einer Kulturstaatsministerin gehört es, kulturelle Einrichtungen und Projekte von nationaler und gesamtstaatlicher Bedeutung zu fördern. So steht es in meiner Arbeitsplatzbeschreibung. Doch welche Einrichtungen und Projekte sind von nationaler, gesamtstaatlicher Bedeutung? In der Bundesrepublik Deutschland muss man dazu noch fragen, auf welche Einrichtungen und Projekte einzelner Bundesländer diese Attribute zutreffen.
Institutionen, Stiftungen, Archive, Bibliotheken, Kulturdenkmale: Ja. Aber daneben ist noch etwas anderes, von außerordentlicher, nationaler und gesamtstaatlicher Bedeutung: Alles nämlich, was das kulturelle Zusammenwirken und das gesellschaftliche Zusammenleben mit all seinen Reibungen und Widersprüchen fördert. Freiheit, Öffentlichkeit, Teilhabe und Existenzsicherung. Weil aber beide – Kultur und Gesellschaft – zusammengehören und sich auch nicht auseinanderrechnen lassen, wird es auch immer wieder Interessenskonflikte geben. Was hat mehr Gewicht, was hat mehr Bedeutung? Was wollen, was sollen, was können wir fördern? Freie Theaterprojekte oder Nationaltheater? Museen? Oder – in Krisenzeiten zumal - doch besser Schulen und Kindertagesstätten. Ein schlimmer Konflikt. Und ein gefährlicher Konflikt.
Und was heißt in „Krisenzeiten“? Die Pandemie hat gezeigt: Interessenskonflikte, wie die genannten, können für die Kultur im Allgemeinen und für die Kulturschaffenden im Besonderen existenzgefährdend sein. Sie hat außerdem gezeigt, und das ist mir wichtig und wurde mir in den vergangenen Tagen noch einmal deutlich: Kultur ist keine verzichtbare Beigabe, sondern sie ist von existenzieller Bedeutung, weil die Kultur die Stimme unserer Demokratie ist. Demokratische Gesellschaften brauchen Kultureinrichtungen, Theater, Kinos, Konzertsäle und Museen. Und sie brauchen sie nicht nur in „groß und national“, sondern auch in „klein und regional“, sie brauchen sie vielfältig, sie brauchen sie divers und sie brauchen sie nachhaltig.
Das sind Aufgaben, die Bund und Länder nur gemeinsam bewältigen werden. Deshalb will die Regierungskoalition Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankern. Wir wollen damit deutlich machen, was Verantwortung bedeutet. Deshalb will ich, wollen wir ein gleichberechtigtes, produktives Zusammenwirken von Bund und Ländern. Ich bin an der Grenze zwischen Bayern und Baden-Württemberg aufgewachsen, ich habe den Föderalismus in meiner DNA.
Der Maßstab für eine demokratische Kulturpolitik muss dabei die Freiheit von Kunst und Kultur bleiben. Darauf müssen wir uns auch hier einrichten: Kunst muss mir nicht gefallen, sie muss nicht politisch sein, sie kann aber politisch sein. Aber die Freiheit von Kunst und Kultur zu achten und zu verteidigen, das ist unsere historische Verantwortung. Vielfalt zu fördern heißt für eine demokratische Kulturpolitik nicht, Kunst und Literatur der Beliebigkeit zu überlassen, sondern ihr mit den Mitteln öffentlicher Förderung Ausdrucksmöglichkeiten zu öffnen und Räume zu schaffen, in denen künstlerische und kulturelle Vielfalt, in denen Diversität und Nachhaltigkeit gelingen und wirken können.
In einem Artikel einer großen deutschen Zeitung stand nach dem Theatertreffen in Berlin: Diversität? Nachhaltigkeit? Wo bleibt denn da die Kunst? Ich erlaube mir zu sagen: Sie gehören zusammen. Sie endlich zusammenzuführen, das ist doch die große Aufgabe, vor der wir stehen. Und dann werden wir auch eine Ästhetik der Nachhaltigkeit erleben. Aber das besprechen wir das nächste Mal.