– Es gilt das gesprochene Wort –
Dass auf der documenta ein antisemitisches Bild aufgestellt wurde, hat die Jüdinnen und Juden in unserem Land und weltweit erschüttert und entsetzt. Es hat uns alle erschüttert und entsetzt. Manche – und ich habe dafür großes Verständnis – stellen sich sogar die Frage, ob wir aus der Vergangenheit gelernt haben, ob bei uns wirklich kein Raum für Antisemitismus sei.
Das ist, lassen Sie es mich so klar sagen, ein Versagen in der Planung und Durchführung der documenta. Und es ist ein Wortbruch. Denn über Monate hat die documenta uns versichert, auch mir persönlich versichert, dass für Antisemitismus auf der documenta kein Platz sei. Im Vertrauen darauf habe ich die documenta verteidigt gegen Angriffe und ihren Freiraum geschützt. Ich werde auch weiterhin die Freiheit der Kunst verteidigen. Aber auch sie hat Grenzen. Diese wurden hier überschritten, dabei bleibe ich. Dies muss Konsequenzen haben. Enttäuschtes Vertrauen muss wiederhergestellt werden.
Antisemitismus ist keine deutsche Erfindung, sondern eine globale Realität. Antisemitismus ist – wie es Adorno gesagt hat – das „Gerücht über Juden“. Dieses Narrativ des Vorurteils existiert weltweit. Und es existiert eben auch in Diskursen, die wir bisher vielleicht zu sehr durch die Brille der Kapitalismuskritik oder des Antikolonialismus gesehen haben.
Der Holocaust ist eine deutsche Erfindung. Daraus erwächst eine Verantwortung für unser Land und für uns alle. Wenn wir es also ernst meinen, dann müssen wir die globale Realität des Antisemitismus gerade als Deutsche auch in globalen Zusammenhängen bekämpfen. Die Bekämpfung des Antisemitismus muss so global sein wie der Antisemitismus selbst.
Meines Erachtens ist die kuratorische Arbeit vor Ort nicht so geleistet worden, wie das notwendig gewesen wäre. Zum Teil mag das ein immanentes Risiko des künstlerischen Ansatzes von ruangrupa sein.
Aber wenn man solch einen kollektiven Ansatz kennt und will, dann hätte man daraus die Konsequenzen ziehen müssen. Dass dies nicht geschehen ist, das liegt in der Hauptsache an unklaren Strukturen, nicht geklärten Zuständigkeiten, fehlender internationaler Expertise und diffusen Verabredungen. Das muss sich ändern.
Ein paar Punkte, die besonders auffallend sind:
1. Der Oberbürgermeister kennt diese strukturellen Schwächen seit 2018, er hat ja auch öffentlich gesagt, der Aufsichtsrat sei eventuell unnötig und jedenfalls könne er ihn ersetzen – das ist keine Grundlage für gemeinsame Arbeit und ich weiß mich hier mit der Kulturministerin des Landes Hessen und auch dem Ministerpräsidenten des Landes Hessen einig.
2. Die Findungskommission hat laut der Homepage der documenta „erstmals die Funktion eines documenta Beirates“, sie „begleitet den Projektprozess“ und „steht Aufsichtsrat und der Geschäftsführung fachlich beratend zur Seite“. Davon habe ich bis auf vereinzelte Ausnahmen bisher noch nichts gesehen. Und es drängt sich mir der Eindruck auf, dass diese Beratungsfunktion bisher noch nicht abgefragt wurde.
3. Den Projektprozess begleiten hätte nun einmal bedeutet, sowohl ruangrupa als auch den ausgewählten Künstlerinnen und Künstlern zu vermitteln, wo grundgesetzliche Schranken, gesellschaftliche Erwartungen, Diskurse und Meinungen in Deutschland verlaufen. Das hätte auch bedeutet, nach Deutschland hinein zu vermitteln, mit welchen Traditionen, Ansätzen, Neuerungen und Brüchen wir es zu tun bekommen. Das hätte bedeutet, beides in Verbindung zu setzen und sich darauf zu verständigen, wo die Menschenwürde Grenzen setzt. Die Universalität der Menschenwürde braucht den internationalen Diskurs! Und sie braucht ihn dringender denn je!
Der Respekt vor und die Wahrnehmung von kuratorischer Verantwortung ist übrigens das Gegenteil der Einschränkung von Kunstfreiheit. Es ist Teil der Kunstfreiheit. Und ich werde genau das auch weiter verteidigen. Aber ich werde auch kritisieren, wenn diese Freiheit nicht in Verantwortung wahrgenommen wird. Nochmals: Den Projektprozess zu begleiten, heißt Expertise einzuholen. Auf allen Ebenen. Auch auf der des Aufsichtsrats. Genau das habe ich schon im Januar angeregt, was vom Vorsitzenden des Aufsichtsrats abgelehnt wurde.
Die documenta ist nicht nur der Stolz der Stadt Kassel. Sie ist nicht nur von einer starken Bürgergesellschaft getragen. Sondern sie ist für Deutschland, für die Kultur unseres Landes und für die Kunst und Kultur weltweit wichtig. Damit dies auch so bleibt und wir sie weiter fördern können, muss sie sich erneuern. Darüber bin ich mir mit dem Stiftungsrat der Kulturstiftung des Bundes – die hier übrigens sehr gute Arbeit leistet –, mit den Vertreterinnen und Vertretern der Bundesländer und der Kommunen in diesem Gremium einig. Ich stehe hierzu bereit, und habe genau zu diesem Ziel einen 5-Punkte-Plan formuliert.
Was wir hier auf der documenta in dem Bild von Taring Padi gesehen haben, das ist die typische abscheuliche europäische antisemitische Bildsprache, die besonders über die Terrorherrschaft der Nazis in die Welt getragen wurde und die nun über diesen Umweg zu uns zurückkommt.
Dabei ist eines für mich aber auch klar: Gerade wenn und weil wir es ernst meinen mit der Menschenwürde als universellem Wert; gerade weil wir Deutsche in unserer Geschichte immer wieder gegen die Menschenwürde verstoßen haben; gerade wegen der Massenmorde der Shoah und weil die nationalsozialistische Herrschaft Unrecht und Schrecken über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat; hat das auch etwas mit uns zu tun.
Wenn wir es ernst meinen mit den globalen Zusammenhängen und der gegenseitigen Abhängigkeit, wenn wir es ernst meinen mit der Verteidigung der Menschenwürde, dann kann die Antwort nicht lauten, das wir uns verschließen vor dem, was auf anderen Kontinenten geschieht. Sondern einstehen für das, was nicht verhandelbar ist.
Man bekämpft Antisemitismus nicht dadurch, dass man die Augen vor diesen Zusammenhängen verschließt. Und erst recht nicht durch Angriffe mit – ja, auch das hat es gegeben – rassistischen Untertönen, in denen so getan wird, als seien Menschen aus dem so genannten Globalen Süden quasi qua Natur antisemitisch disponiert. Sondern Antisemitismus wird bekämpft durch Kritik und gemeinsames Handeln. Diese Gemeinsamkeit gilt es zu schaffen.
Lassen Sie mich schließen mit einem Ausblick: Wenn und weil wir uns alle einig sind, dass für Antisemitismus kein Platz ist, wenn daraus die notwendigen Konsequenzen gezogen werden und verloren gegangenes Vertrauen wiederhergestellt ist, dann ist auch wieder der Blick frei für das, was diese documenta auch ist: Eine Ausstellung von Kunst und Kreativität aus dem ganzen Globalen Süden und darüber hinaus. Wir können uns darüber freuen und ärgern, staunen und erleben. Wir können die Arbeit von über tausend Künstlerinnen und Künstlern würdigen und uns dann vernünftig streiten.
Und was ich mir wünsche ist, dass uns Debatten nicht entgleiten, sondern dass Kontroversen faktenbasiert, konstruktiv und respektvoll ausgetragen werden. Denn auch für den Streit gibt es Regeln.
Und dafür wollen wir eintreten. Gemeinsam mit Angela Dorn, gemeinsam mit Josef Schuster, mit Gremien und Verbänden. Aber eben auch gemeinsam mit Künstlerinnen und Künstlern, die mit ihrer Arbeit hier auf der documenta das zeigen, worum es geht: Menschenwürde, Menschlichkeit, Solidarität und den Schutz derjenigen, die ihn benötigen.