Eine russische Freundin sagte mir einmal, ihr Land habe die unglückselige Eigenschaft, an einer historischen Weggabelung mit großer Sicherheit die falsche Richtung einzuschlagen, den abschüssigen Weg zu wählen, der in die Katastrophe führt.
Lange, sehr lange, galt dasselbe für Deutschland. Und leider haben Gesellschaften mit einem Hang zu Katastrophen die Neigung, auch die Nachbarn mit ihrem Unglück zu überziehen, ihren Kontinent oder gleich die ganze Welt.
Ob es so oder auch anders hätte kommen können und welcher Weg tatsächlich der bessere gewesen wäre, ist ja nicht nur ein interessantes Gedankenspiel, zu dem uns die Ausstellung einlädt, die wir heute eröffnen. Die Frage, ob es in einer historischen Situation Entscheidungsoptionen gab, und warum diese und nicht etwa eine andere Entscheidung getroffen wurde, ist doch der Beginn jeder Beschäftigung mit Geschichte. Jedenfalls jeder sinnvollen, weil Erkenntnis bringenden Beschäftigung mit Geschichte.
Mir ging es wie Ihnen, Herr Professor Gross: unter allen Exponaten hat mich das Schild mit dem Satz „Achtung! Krenz Das ist der himmlische Frieden“ (sic), das von der Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz stammt, auch besonders beeindruckt. Ich erinnere mich, dass in dieser Zeit viele, auch viele Beobachterinnen und Beobachter im Westen, befürchteten, die Sowjetunion könne eingreifen und die friedlichen Proteste gewaltsam beenden.
Sie tat es nicht. Es gab keine Wiederholung des Massakers in Budapest 1956, keinen zweiten 17. Juni 1953, keine Neuauflage der Tragödie in Prag 1968. Und keine blutige Niederschlagung des Protests wie nur Monate zuvor auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.
Der 4. November 1989 war eine Zeitenwende. Und wenn historische Daten miteinander korrespondieren, wie diese Ausstellung es nahelegt, dann nahm die Zeit, die auf die Ereignisse im Herbst 1989 folgte, die zur Wiedervereinigung beider deutscher Staaten und zum Fall des Eisernen Vorhangs in Europa führte, am 24. Februar 2022 eine neue Wendung.
Was wir damals, 1989, befürchteten, trat nicht ein. Am 24. Februar diesen Jahres glaubten dagegen die wenigsten von uns, dass die Machtbesessenheit eines Einzelnen und seiner selbstherrlichen Entourage ausreicht, alles, was in diesen drei Jahrzehnten erreicht wurde, wieder aufs Spiel zu setzen. Es kam anders.
„Roads not taken“ ist mehr, viel mehr als eine lehrreiche Zeitreise durch die deutsche Geschichte von 1989 zurück ins Jahr 1848. Die Ausstellung zeigt uns Geschichte als Möglichkeit und Erfahrung. Der didaktische Kniff, nicht nur mit der Möglichkeit eines anderen Ausgangs der Geschichte zu spielen, sondern zu zeigen, dass diese Möglichkeit immer Teil der Geschichte ist, macht deutlich: Jedes dieser Ereignisse geht uns an. Sie sind nicht einfach vergangen, sondern Teil unserer historischen Erfahrung.
Der israelische Historiker Omer Bartov beschreibt diese historische Erfahrung in seinem wunderbaren Buch über die Geschichte der ostgalizischen Stadt Buczacz als eine „zerbrechliche und doch erstaunlich haltbare Kette von Generationen, Schicksalen und Kämpfen, in der sich die historischen Ereignisse unablässig entfalten“, als ein „Zusammenspiel von Zufall und menschlichen Handlungen“. Die 14 historischen Momente, die in der Ausstellung in Beziehung zueinander gesetzt werden, zeigen genau diese Situationen, in denen sich historische Erfahrung verdichtet, um zum Ereignis zu werden.
Was sich aus der Zeitreise von 1989, dem Jahr der geglückten Revolution, zurück ins Jahr der gescheiterten Revolution von 1848 lernen lässt, ist, dass ein Nachdenken über die Vergangenheit einen Erkenntnisgewinn über Gegenwart und Zukunft bedeuten kann. Und damit auch einen Gewinn für die Demokratie, denn die Geschichte zu befragen, heißt urteilen zu lernen.
Welche Folgen hätte ein Gelingen der Freiheitsbewegung 1848 für den Verlauf der deutschen und der europäischen Geschichte gehabt? Und welche ein Scheitern der friedlichen Revolution von 1989? Welche Rolle spielte der Zufall bei beiden Ereignissen?
Eine große, eine sehr große, würde ich sagen!
Gelingen und Scheitern – es ist immer beides möglich. Im Spannungsfeld der beiden Möglichkeiten gewinnt das historische Ereignis an Konturen und der Besucher und die Besucherin der Ausstellung an historischer Urteilskraft. Und dazu gehört auch, den Zufall nicht zu verkennen. 1989 zeigte er sich von seiner schönsten Seite, als Burleske. Der SED-Funktionär Günter Schabowski hatte den Beschluss zur Reiseregelung missverstanden, er verplapperte sich und entließ damit die Bürgerinnen und Bürger der DDR in ihre Freiheit.
Johann Jacobys Satz, den der jüdische Arzt und Demokrat am 2. November 1848 Friedrich Wilhelm IV. hinterherrief, als der preußische König die Abgesandten der Nationalversammlung wortlos stehenlassen wollte, hatte sich erfüllt: „Das ist das Unglück der Könige, dass sie die Wahrheit nicht hören wollen!“
Und wer nicht hören will, den bestraft das Leben.
Ich bedanke mich von ganzem Herzen für diese wunderbare Ausstellung!