- Es gilt das gesprochene Wort.-
Einen langen Schatten nennen Sie, lieber Romani Rose, Auschwitz. Dieser „lange Schatten von Auschwitz“ prägt viele Sinti und Roma Familien bis heute. Sie kennen das Datum, an das wir heute erinnern, den 16. Dezember 1942, der Tag, an dem Heinrich Himmler, Reichsführer und Rassen-Ideologe, den Auschwitzerlass unterschrieb.
Eine Unterschrift, die das pedantische Sortieren und Kategorisieren von Menschen und Merkmalen seinem Ziel entgegenführte: dem hunderttausendfachen Mord an Sinti und Roma. Dem Erlass folgten Richtlinien und Ausführungsbestimmungen, dann Listen. Alles sorgfältig vorbereitet, so kleinkrämerisch wie kaltblütig. Eine hocheffiziente Bürokratie wird zur Mordmaschine. Allein hier im KZ Sachsenhausen waren mehr als 1.000 Sinti und Roma inhaftiert. Und wir wissen: Es endete in einem Völkermord an den Sinti und Roma. Er hinterließ eine unermessliche Zahl an Opfern, Ermordeten und traumatisierten Überlebenden.
Die ganze Perversion dieser mörderischen Bürokratie, sie wird für uns heute vor allem fassbar in den Berichten der Menschen, die überlebt haben, die mit ihren Erinnerungen leben mussten und über ihre Erfahrungen gesprochen haben − wie Zilli Schmidt, die wir vermissen, wie Mano Höllenreiner, wie Philomena Franz.
Zillis ganze Familie wurde nach dem Erlass nach Auschwitz deportiert. Am 2. August 1944 wurden ihre Eltern, ihre Schwester mit Kindern und auch ihre Tochter Gretel in der Gaskammer ermordet. Gretel war vier Jahre alt. Zilli schrieb über diese unvorstellbare Monstrosität des Geschehenen in ihren Erinnerungen:
„Damit soll man fertig werden, kann man doch gar nicht. (…). Ich kann sie nicht vergessen. Gretel. Und wenn ich jetzt an sie denke, dann sind da die wenigen Jahre, vor allem die Monate in Auschwitz, die ich mit ihr zusammen war, mit ihr gelebt habe.“
Zilli Schmidt stellt sich die Frage, wie ihre Tochter in der Gaskammer umgekommen ist:
„Wie ist sie dahin gekommen? An der Hand meines Vaters? Hatte er sie auf dem Arm? … Ach, ich kann diese Fragen nicht aushalten und nicht loslassen.“
Niemand kann diese Fragen aushalten. Wir alle können es nicht.
Es war ein lebenslanger, ein chronischer Schmerz, an dem Zilli Schmidt litt.
Wer wollte ihr sagen: Vergiss! Vergiss Deine Tochter, Deine Eltern, die Schwester! Steh auf, geh‘ und lebe Dein Leben?
Die das wollen, die Vergessen verlangen, mangelt es nicht nur an Empathie, sie leugnen oder relativieren die nationalsozialistischen Verbrechen. Wer Vergessen fordert, stellt sich an die Seite der Täter.
Ich verspreche: Wir werden nicht vergessen. Ich verspreche: wir werden nicht verdrängen und wir nicht leugnen, dass uns die Geschichten von Zilli Schmidt, Mano Höllenreiner, Philomena Franz und allen den anderen Opfern, eine Verantwortung aufgeben, die nicht vergeht. Wir nehmen diese große Verantwortung an.
Es muss deutlicher, sichtbarer werden, in welchem Ausmaß Sinti und Roma Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurden. Viel zu lang wurden sie als Opfergruppe kaum wahrgenommen. Sie müssen endlich einen festen Platz in unserer Erinnerungskultur und -politik haben.
Seit 600 Jahren leben Sinti und Roma unter uns, sie gehören zu uns, sind ein Teil unserer vielfältigen Gesellschaft, eines „Wir alle“. Sie bereichern uns und unsere Kultur.
Und dennoch gab und gibt es, auch heute noch: Vorurteile, üble Nachrede, Abgrenzung und Ausgrenzung, nichts davon war je wirklich verschwunden. 80 Jahre nach dem Völkermord der Nazis ist der Weg, der nach Auschwitz führte, noch immer begehbar. Seine Wegmarken heißen Rassismus und Antiziganismus. Das ist der lange Schatten, von dem Romani Rose spricht. Und es ist im höchsten Maß alarmierend, wenn Studien uns sagen, dass knapp ein Drittel der Bevölkerung rassistische Vorurteile gegen Sinti und Roma hat.
Ja, wir brauchen mehr Miteinander, brauchen mehr kulturelle und politische Bildung, mehr Aufklärung und mehr Begegnungen mit Sinti und Roma. Vor allem anderen geht es um Anerkennung, um Teilhabe und Gleichberechtigung. Und es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe von Akteur*innen der Zivilgesellschaft und engagierten Vertreter*innen der Länder und Kommunen alle Voraussetzungen für eine umfassende Gleichberechtigung von Sinti und Roma zu schaffen.
Es liegt an uns, die Stimmen der Zeitzeugen, die nach und nach weniger werden, weiterzutragen. Zeitzeugen wie Zilli Schmidt, die bis zu ihrem Tod mit unglaublicher Energie das Gespräch mit jungen Menschen gesucht und sie darin bestärkt hat, sich gegen Hass und Ausgrenzung stark zu machen.
In ihren Erinnerungen schrieb Zilli Schmidt: „Ich habe einen Auftrag. Solange ich noch hier bin, erzähle ich meine Geschichte und vergesse es auch nicht. Ich vergesse es nicht und erzähle meine Geschichte, bis ich meine Augen zumache und bin bei meinem Herrn.“
Jetzt ist es an uns, ihre Geschichte weiterzutragen und dafür zu sorgen, dass daraus gelernt wird; dass nicht vergessen wird. Zilli, ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, in diesem, in Deinem Sinne zu wirken.